Formen der inszenierung
Im Spannungsfeld zwischen Freiraum und Kontrolle
Im 360°Film befinden wir uns in einem Spannungsfeld. Auf der einen Seite soll den Rezipierenden möglichst viel Freiraum für ein eigenständiges Erkunden des Bildraums geboten werden. Auf der anderen Seite ist es bei einer narrativen Erzählung unerlässlich, dass alle Informationen, die für das Verständnis der “Geschichte” wichtig sind, in effizienter Form vermittelt werden. Diesem Dilemma sind alle Formen der Inszenierung im 360°Film unterworfen. Im Bereich des Realfilms (fiktive und dokumentarische Beiträge) können im 360°Film drei Formen unterschieden werden:
Inszenierung an einem Ort mit fixer Kamera
Die Aufnahme erfolgt mit einem Stativ, die Kamera bleibt fix am selben Ort. In diesem Setting liegt das Gestaltungspotential beim Einrichten und in der Bespielung der Situation vor Ort. Die Kamera steht im Zentrum. Mit dem Platzieren von Licht kann die gewünschte Stimmung erzielt werden. Dabei geht es darum, Lichtquellen da zu platzieren, wo sie im Blickfeld der Kamera nicht sichtbar sind oder sie werden bewusst sichtbar in die Inszenierung mit einbezogen. Bei Drehs im Aussenbereich spielen die Tageszeit und die Wetterverhältnisse eine entscheidende Rolle.
Video: Ausschnitt von Tourismus Schwyz, Christophe Merkle, Produktion Zeitraum Film GmbH
Handlungen können in unterschiedlichen Distanzen zur Kamera, im Nahbereich, im Mittelbereich, oder im Hintergrund, stattfinden. Mit einem nach dramaturgischen Regeln geplanten Auftritt von Protagonist*innen oder Schauspieler*innen ist es möglich, Spannung zu erzeugen und Handlungen attraktiv zu gestalten. Dies lässt sich mit den Möglichkeiten der szenografischen Inszenierung im Theater vergleichen. Akteure können sich dabei der Kamera nähern, bekommen so eine größere Aufmerksamkeit und können sich auch wieder entfernen. Ebenso können in verschiedenen Richtungen und Distanzen Ereignisse inszeniert werden, die einem kausalen Zusammenhang folgen und sich an einem klar vorgegebenen Zeitplan orientieren.
Bei dokumentarischen Projekten geht es oft darum, vor Ort eine geeignete Kameraposition zu finden, wo auf verschiedenen Ebenen und Distanzen Aktivitäten beobachtet werden können. Eine Schwierigkeit besteht dabei, die Aufmerksamkeit der Rezipient*innen in einem bestimmten Zeitfenster genau an der Stelle in der 360°Projektion zu haben, wo man diese haben möchte. Um einen möglichst geeigneten Standort für die Kamera zu finden, ist ein umfassendes Rekognoszieren der Umgebung nötig. Bei spontanen dokumentarischen Aktivitäten braucht es oft auch ein wenig Glück, damit eine spannende Erzählung entsteht, da oft nur wenig Gestaltungsraum vorhanden ist und schnell reagiert werden muss. Mit einem grundlegenden Verständnis der Rahmenbedingungen des 360°Film sind die Chancen für erfolgreiche Aufnahmen jedoch um einiges höher.
Vorteil
Einfachste und zumindest von der technischen Seite her gesehen kontrollierbarste und berechenbarste Form der Inszenierung.
Kann effizient und kostengünstig realisiert werden.
Nachteil
Attraktive Inszenierungen sind anspruchsvoll, Vergleichbar mit einer Theateraufführung. Es ist möglich, Figuren oder Gegenstände sehr nah an die Kamera heranzuführen, was bei der Rezeption bedeutet, dass Figuren, Gegenstände und Ereignisse der Zuschauerin, dem Zuschauer sehr nahe kommen. Dies kann Spannung erzeugen, aber auch Ängste und Unbehagen auslösen.
Präzise Abläufe und Handlungen müssen im Vorfeld wie im Theater erprobt und eingeübt werden.
Es sind nur wenig Erfahrungswerte in Bezug auf Nähe und Distanz und auf das Bewegungsfeld der Rezipierenden vorhanden. Innerhalb des Forschungsprojekts “Erzählen im 360°Film” haben wir zum Thema eine Testreihe im “Labor” durchgeführt. Diese geben gewisse Hinweise und Referenzen für die Planung.
Beispiele
The Real Thing (Arte France, 2018)
Sanctuaries of Silence (go projects, 2018)
Lions 360° (National Geographic, 2017)
2. Inszenierung mit bewegter Kamera / eine Einstellung (Plansequenz)
In diesem Setting wird die Kamera bspw. an einer Drohne/ an einem Stab befestigt oder wird in der Hand mitgetragen. Oft wird mit einem Stabilisierungssystem gearbeitet. Das Gestaltungspotential liegt hier in der Anlage und in der Planung der Szene. Die Kamera folgt der Handlung. Sie entscheidet über Nähe oder Distanz und somit über die Priorisierung der Handlungen. So wird in einer direkteren Form eine Autorenschaft erkennbar. Diese ist weiter dadurch präsent, als dass der Kameramann, die Kamerafrau meistens im Bild sichtbar ist. Aktionen sind auch hier in unterschiedlichen Bereichen wie Nah, Mitte oder im Hintergrund möglich. Es sind aber nun nicht mehr die Akteure, die sich der Kamera nähern oder sich entfernen, sondern die Kamera verschiebt ihre Position.
Vorteile
Vermittelt Authentizität und lässt damit die Rezipierenden noch mehr Anteil am Geschehen nehmen.
Viel Raum für Experimente und potentiell attraktive Erzählformen.
Kann anregend und kostengünstig sein.
Mit der Kamera kann nahe ans Geschehen herangefahren und so den Fokus des Geschehens beeinflusst werden (Autorenschaft).
Der Kameraträger ist im Bild sichtbar und muss ins Setting mit eingeplant oder in der Postproduktion aufwendig retouchiert werden.
Nachteile
Kamerabewegungen wirken bei Realaufnahmen oft etwas unruhig. Und birgt so die Gefahr, dass in der Rezeption dies als unangenehm empfunden wird. Ebenso können eine ungenaue Ausrichtung oder zu heftige Bewegungen zu unangenehmen körperlichen Reaktionen der Rezipierenden führen (Motion Sickness).
Inszenierungen sind durch die 360°Bespielung anspruchsvoll. Es ist möglich, mit der Kamera sehr nahe ans Geschehen heranzugehen, was bei der Rezeption bedeutet, dass Figuren, Gegenstände und Ereignisse der Zuschauerin, dem Zuschauer sehr nahe kommen. Dies kann Spannung erzeugen, aber auch Ängste und Unbehagen auslösen.
Präzise Abläufe und Handlungen sollten auch hier im Vorfeld erprobt werden.
Es sind nur wenig Erfahrungswerte in Bezug auf Nähe und Distanz und auf das Bewegungsfeld der Rezipierenden vorhanden.
Beispiele
Der Gotthard-Basistunnel (SRF DOK, 2016)
Toyko Light Odyssey (WOW, 2018)
3. Inszenierung mit mehreren Einstellungen und unterschiedlichen Szenen
Wie im klassischen Film kann auch im 360°Film eine Geschichte auf mehrere Szenen aufgeteilt werden. Das Gestaltungspotential liegt hier in einer attraktiven Abfolge von szenischen Räumen, die narrativ möglichst spannend aneinandergereiht werden. Der Gestaltungsraum ist sehr gross. Der Lead beim Erzählen kann wie im klassischen Film das Bild oder der Ton übernehmen. Das Besondere beim 360°Film ist jedoch, dass Bild- wie Tonelemente präzise im ganzen 360°Raum platziert werden können. Ein Ereignis kann über, unter oder auch hinter uns von statten gehen und ist nicht durch ein Bildfenster begrenzt. Bei stereoskopischen Aufnahmen können die Bild- wie Tonelemente dazu noch in einer ganz bestimmten Distanz zur Kamera dargestellt werden. Diese Möglichkeit der genauen Platzierung eröffnet weitere Gestaltungsmöglichkeiten, die jedoch auch präzise eingesetzt werden müssen, da sie sonst Irritationen auslösen. Dies ist besonders anspruchsvoll, weil noch kaum Referenzen zur Verfügung stehen und die Rezeptionsgewohnheiten der Rezipierenden sehr unterschiedlich sind.
Vorteile
Viele Gestaltungsmöglichkeiten.
Viel Raum für Experimente und potentiell attraktive Erzählformen.
Szenen können so aufgebaut werden, dass sie sehr körperlich wirken und so ein intensives Erlebnis ermöglichen.
Nachteile
Zu heftige Bewegungen können auch hier schnell zu unangenehmen körperlichen Reaktionen der Rezipierenden führen (Motion Sickness).
Die Gestaltung von Übergängen von einer Szene zur anderen ist anspruchsvoll, da jede Szene entsprechend geplant und vorbereitet werden muss. Die Aufmerksamkeit der Betrachtenden ist zu lenken und die Ausrichtung vor und nach einem Schnitt / einem Übergang ist nach Interessenspunkten zu planen, wenn der Fluss der Geschichte aufrechterhalten werden soll (siehe Kapitel Übergänge / Schnitt im 360° Film). Diese Form der Inszenierung ist in der Regel attraktiv, aber auch aufwendig und entsprechend kostenintensiv.
Inszenierungen sind durch die 360°Bespielung auch bezüglich der Positionierung von Protagonist*innen vor der Kamera besonders anspruchsvoll. Es ist möglich, mit der Kamera sehr nahe ans Geschehen heranzugehen, ebenso kann sich das Umfeld verändern, indem sich die Protagonisten der Kamera nähern. Insbesondere der Umgang mit Nähe und Intimität ist wenig erprobt. So bestehen noch keine Konventionen auf die man sich stützen könnte. Dies kann Spannung erzeugen, aber auch Ängste und Unbehagen auslösen. Auch aus technischer Sicht bestehen Grenzen. Wenn die Kamera einer Protagonist*in zu nahe kommt, entstehen unnatürliche Verzüge im Bild (aufgrund des Stitchings). Ebenso sind durch die noch eingeschränkte Auflösung der Displays weitere Grenzen gesetzt.
Präzise Abläufe und Handlungen sollten auch hier im Vorfeld erprobt werden.
Video: Ausschnitt aus der Produktion «This is Climate Change» von Danfung Dennis & Eric Strauss (2018)
4. Animationsfilm – ein Spezialfall?
Wird ein Beitrag als Animationsfilm umgesetzt, gelten grundsätzlich dieselben Regeln wie im Realfilm. Es ist möglich, mit einer statischen Kamera auf eine einzige Einstellung hinzuarbeiten (Plansequenz) genau so wie es möglich ist, mit “Schnitten” unterschiedliche Räume zusammenzufügen. Im Bereich der Computeranimation sind Kamerafahrten wie auch das Setzen von Licht, oder Veränderungen des Raums planmässiger und berechenbarer umsetzbar. Das Bauen von attraktiven digitalen Modellen ist jedoch mit einem grossen Zeitaufwand verbunden und entsprechend Kostenintensiv. Es sind aber auch einfache Formen von Animationen wie z.B. Stoptrick möglich. Das Imperfekte der Bewegungen erzeugt auch im 360° Raum einen eigenen Charme und stösst auf eine erstaunlich hohe Akzeptanz.
Beispiele
Unterholz (HSLU, BA Animation und SRF, 2018)