Wonderfully Disembodied
Splitter einer Geschichte der Immersion in audiovisuellen Medien
von Fred Truniger
Die immersive Qualität von 360-Grad-Video ist nicht von der Hand zu weisen, jedoch stellt es weder den Beginn noch das Ende immersiver Medienwahrnehmungen dar. Der folgende Artikel möchte einen kurzen Überblick über audiovisuelle Medien geben, die mindestens einen Teil ihrer Faszination aus der Immersion der Zuschauer*innen in eine medial – vor allem visuell – vermittelte Umgebung ableiten. Die gegenwärtige Hausse der Immersion soll damit im Kontext ihrer historischen Vorläufermedien verortet werden können. Denn es sind nicht allein technische Entwicklungen, die für das Gefühl von Immersion in eine Medienumgebung verantwortlich gemacht werden können, sondern zuerst selbstverständlich unsere körpereigene Wahrnehmung und das staunenswerte Vermögen unseres kognitiven Apparates, sich selber in eine andere als die realweltliche Situation hineinimaginieren zu können.
Bekannt ist der –inzwischen als Legende widerlegte (Loiperdinger, 1996) – Gründungsmythos des Kinos: Im Grand Café auf dem Boulevard des Capucines soll am 28. Dezember 1895 beim Anblick des lediglich 50 Sekunden langen Films „L’Arrivée d’un train en gare de La Ciotat“ der Gebrüder Lumière ein Publikum von gegen 200 Zuschauenden in Panik von den Sitzen aufgeschreckt sein (nach anderen Quellen haben sie sich unter den Bänken zu schützen versucht), weil auf der knapp drei Meter breiten Leinwand vor ihnen eine Szene in einem Bahnhof vorgeführt wurde, in welcher eine damals moderne Dampflokomotive den Bahnhof des südfranzösischen Städtchen La Ciotat erreicht. Totale Immersion in schwarz-weiss und ohne Ton: Die audiovisuell noch naiven Kinozuschauer*innen der französischen Hauptstadt – so will es der Mythos – sollen von der tatsächlichen Präsenz des Zuges auf der vergleichsweise kleinen Leinwand solchermassen überzeugt gewesen sein, dass Sie die Realität nicht mehr von der dargestellten Wirklichkeit auf der Leinwand zu unterscheiden in der Lage waren.
Der Tumult im Grand Café lässt sich historisch nicht belegen und es scheint nicht der Wunsch nach Realismus gewesen zu sein, der die frühen Kinozuschauer*innen in die Säle trieb, sondern jener nach dem Phantastischen in den bewegten Bildern der Gebrüder Lumière (ibid.). Die Attraktion des „Cinema of Attractions“ , wie Tom Gunning (1986) den frühen Film nannte, war nicht das relitätsnahe Gefühl, tatsächlich an einen anderen Ort versetzt zu werden, sondern jene an einer Vorführung „lebender Bilder“ teilzunehmen, die die Zuschauenden direkt ansprach und so ihre (Audio-)Visualität deutlich machte. Das Eintauchen in die mediale Umgebung war in den Anfängen des Kinos also bereits vielschichtiger, als die Legenden glauben machen.
Frühe immersive Bildmedien
Das spielerische Vermitteln realitätsnaher Raumeindrücke über um-fassende Bilder beginnt aber vor dem kinematographischen Zeitalter. Aus einer frühen Geschichte solcher räumlicher Illusionsräume erhalten geblieben ist ein Raum aus dem Keller der Villa di Livia in Prima Porta, nördlich von Rom, dessen vier Wände vollständig mit einer Gartenszene ausgemalt waren. Den Besuchern des möglicherweise an heissen Sommertagen als Speisezimmer dienenden Raums musste der Eindruck entstehen, sich in der Mitte des dargestellten Gartens aufzuhalten. Die Malerei datiert aus der Zeit um circa 20 bis 30 Jahre vor unserer Zeitrechnung und verwendet Techniken der perspektivischen Malerei, die eigentlich erst viel später in die Kunstgeschichte eingegangen sind: Auskragungen aus der den Garten umgebenden Mauer sind zentralperspektivisch korrekt mit sich zum Fluchtpunkt hin verjüngenden Formen dargestellt. Die sich über vier Wände erstreckende Rundummalerei kann als eine frühe Form der Panoramamalerei gesehen werden, die im Europa des späten 18. Jahrhunderts en vogue kam. Der Kontrast zwischen der realen Kellerlage des Raumes und der lichten Atmosphäre unter freiem Himmel im dargestellten Gartens war Absicht: Die Besucher*innen sollten sich im Kellergewölbe der Villa wohl fühlen, die Illusion eines Gartens bot eine Suggestion, die diesem Gefühl durchaus zuträglich war.
Die Geschichte der vorkinematografischen immersiven Medien liesse sich chronologisch mit Beispielen weiter verdichten. In der Geschichte der römischen Kirche beispielsweise zeigen sich im Mittelalter zahlreiche Versuche, die irdischen Sünder mit immersiven visuellen und akustischen Umgebungen zu gewinnen. Deutlich das subtile Spiel zwischen Ausschluss und Inklusion in den Kathedralen der Gothik mit ihren teilweise den ganzen Kirchenraum ausfüllenden Malereien, drastischen Darstellungen der Qualen des Fegefeuers und der Hölle, und dem das Kirchenschiff in zwei Bereiche teilenden Lettner, durch welchen das Kirchenvolk vom Bereich des eigentlichen Gottesdienstes sichtbar ausgeschlossen war, während lateinische Liturgien, vielstimmige Choräle, das warme Kerzenlicht und der hoch-immersive Duft von Weihrauch zu ihm hinüberdrang, den Kirchenraum als ganzes erfasste, um die Ausgeschlossenen gerade genügend in eine Atmosphäre involvierte, dass der Wunsch nach vollständiger Inklusion verstärkt wurde. Die "Sacri Monti", die in Norditalien ab ca. 1500 in Mode kamen, stellten auf Bergwegen verschiedene Begebenheiten der christlichen Überlieferung in Dioramen dar. Die dreidimensionalen und lebensechten Dioramen sollten für die Gläubigen historische Orte und Begebenheiten versinnbildlichen und vergegenwärtigen, nicht nur durch die räumliche Darstellung, welche die narrativen Erinnerungen der Besucherinnen aktivierte, sondern auch durch die intensivierte Körperlichkeit der Rezeption auf einem ansteigenden Weg, der die Anstrengung einer Pilgerreise zu simulieren geeignet war (vgl. bspw. Grau, 2001). Die Immersion in eine diffuse historische Geschichte lag der Idee der Sacri Monti also deutlich zu Grunde.
Von einer bemerkenswerten Episode früh-filmischer Immersions-Propaganda, die ebenfalls aus der Geschichte der Katholischen Kirche stammt, berichtet aber Friedrich Kittler (2011) in seiner Berliner Überblicksvorlesung über "Optische Medien" von 1999 . Ungefähr in der Mitte des 17. Jahrhunderts konstatiert Kittler das Erscheinen der "Zauberlaternen" (Laterna Magica), nachdem für nachrichtendienstliche Kriegszwecke Linsensysteme entwickelt worden waren, die das spärliche Licht von Kerzen soweit zu verstärken in der Lage waren, dass das Prinzip der Camera Obscura umgekehrt und der erste Projektsionsapparat für Bilder entwickelt werden konnte. Die Kirche, zur damaligen Zeit von Reformbewegungen bedrängt, die sich gegen den Reichtum der Kirche wandte und deren visuelle Politik mit Bilderstürmen bekämpfte, hatte zu umfassenden Gegenmassnahmen aufgerufen. Jedes Mittel, das geeignet war, den Erfolg der Reformationsbewegung und ihres "Buchdruckmonopols" zu dämpfen war recht. Die Lehre des ein Jahrhundert zuvor von Ignatius von Loyola gegründeten Jesuitenordens, nach welcher die Lehre der Bibel nicht gelesen, sondern in meditativen Exerzitien zu vergegenwärtigen sei, schien dazu geeignet. Der Jesuit Athanasius Kirchner, Deutscher am Hof des Papstes in Rom, stellte 1671 in seiner Ars magna lucis et umbrae eine Konstruktion für die Laterna Magica vor, die sowohl militärischen als auch religiösen Zwecken dienen sollte. Kirchner hatte entdeckt, dass diese Smicroscopum parastaticum genannte Apparatur nicht nur geeignet war, Nachrichten zwischen Kriegsverbündeten über mehrere Kilometer Distanz zu übermitteln, sondern auch dem gemeinen Volk erlaubte, den Umweg über Tagelange Exerzitien zu verkürzen und quasi instantan die Vergegenwärtigung der Lehren der Bibel zu erleben. Die Leidenstationen Jesu Christi wurden dem Kirchenvolk mit Hilfe des Smikroskops in der Form schnell verschiebbarer bemalter Glasplatten fast schon in Bewegung vorgeführt und scheinen für die Zwecke der Gegenreformation höchst erfolgreich gewesen zu sein, denn:
"Es ist aber diese Vorstellung der Bilder und Schatten in finsteren Gemächern viel förchterlicher als die so durch die Sonne gemacht wird. Durch diese Kunst könten gotlose leichtlich von Begehung vieler Laster abgehalten werden / wenn man auf den Spiegel des Teufels Bildnuss entwürffe und an einen finstern Ort hinschlüge"
(Athanäus Kirchner zitiert von Kittler (2011) nach Winfried (1982))
Der päpstlichen Kirche gab Kirchner damit ein effektives Instrument in die Hand, die religiösen Laien massenhaft zu bekehren, indem es den psychedelischen Effekt der Loyola'schen Exerzitien durch Immersion in die Situationen des Leidenswegs und in beängstigende Darstellungen der Höllenqualen nach aussen trug.
Die Kirche wurde Ende des 18. Jahrhunderts von einer neuen Seite bedroht und die Wissenschaft begann ihr den Platz als Erklärungsinstanz des irdischen Daseins streitig zu machen. Mit der Aufklärung und am Beginn der modernen Institutionen der Demokratie und der Wissenschaft brach auch eine Zeit neuer und kühner Versuche an, Räume und räumliche Eindrücke medial zu evozieren. Ein nicht vollendetes Werk totaler Immersion in eine Illusion war der Kenotaph für Newton, den der französische Architekt Étienne-Louis Boullée um 1784 entwarf: Eine riesige Halle in der Form einer perfekten Kugel, 150m hoch und damit weit ausserhalb des menschlichen Massstabs. Ein Kenotaph ist eine Art Ehrenmal für einen Toten, in diesem Falle für Isaac Newton, der am Ende des 18. Jahrhunderts als eine Art höhere Macht verehrt wurde, die Alexander Pope mit den Versen bedachte:
Nature and Nature’s Laws were hid in night,
God said: let Newton be! – and all was light.
Die Hülle des Kenotaphs sollte von kleinen Löchern durchbohrt sein, die den durch einen sehr kleinen Eingang am Grunde der Kugel in das Dunkel des Innenraums Eintretenden den Eindruck eines Sternenhimmels geben sollten – sinnbildlich für die Situation des Menschen in der Aufklärung, dem Newton die Freiheit vom christlichen Weltbild geschenkt hatte, der sich nun aber dem Weltall direkt gegenüber sah. Die Idee, eine Immersion als fast schon realmassstäbliche Simulation zu schaffen – gebaut werden konnte das Projekt in seiner Zeit natürlich noch nicht.
Panorama
Gebaut wurden zur fast gleichen Zeit jedoch andere runde Gebäude, deren einziger Zweck die Behausung neuartiger Malereien war: 1793 eröffnete am Leicester Square in London das erste eigens gebaute Panorama des irischen Malers Robert Barker, dessen Nachkommen noch heute unter anderem im Bourbaki-Panorama in Luzern zu sehen sind. Barker malte Rundbilder mit einer Fläche von circa 250 Quadratmetern, die er an verschiedenen Standorten in genormten Gebäuden ausstellen konnte. Die in solchen Rotunden ausgestellten Malereien zeigten Städteansichten und Landschaften für die Barker auch gleich den passenden Namen fand: Panoramen – die All-Ansicht. In zeitgenössischen Quellen wird der immersive Charakter dieses visuellen Formats betont: Das Pariser Journal des Debats veröffentlichte vom 13 Mai, 1804 eine Beschreibung des Panoramas Die Stadt Rom und Ihre Umgebungen von Pierre Prévost und meint dazu, dass der Betrachter bereits nach fünf Minuten kein Gemälde mehr sieht, sondern die Natur selbst vor dem Auge entstehe (von Plessen, 1993). Die dargestellten Perspektiven waren sorgfältig gewählt, um den Betrachter*innen einen plausiblen und sowohl visuell als auch emotional involvierenden Blickpunkt auf die dargestellte Szenerie zu geben: Stadt- und Landschaftsdarstellungen in der Ansicht von einem Turm oder einem solitären Hügel, Schlachtendarstellungen aus der Perspektive eines gewöhnlichen Soldaten im Moment des Rückzugs, die Kreuzigung Christi, dargestellt zu Füssen des sterbenden Heilsbringers mit hoch aufragenden Sterbenden. Schon bald machten die Panoramen gemacht, die Raumimmersion mit sogenannten "Faux Terrains" weiter zu erhöhen. Zwischen die zentrale, gemeinhin in erhöhter Position errichtete Besucher*innenplattform und die gemalte Aussenwand wurden dreidimensionale Landschaften eingezogen, die die vorderste räumliche Ebene des gemalten Panoramas an dessen unteren Bildrand bis unter die Füsse der Betrachter*innen weiterführten. Den Übergang von gemaltem Bild zu plastischem Vordergrund suchten sie durch Farbgebung und perspektivischem Zusammenspiel der beiden Ebenen verschwinden zu machen, damit die Illusion eines kontinuierlichen Raums bis an den Horizont entstehen konnte. Eine zusätzliche Ebene der Immersionserzeugung kam schliesslich in der zweiten Hälfte des 19. Jh. hinzu, als die Rundumsicht durch akkustische Illusionen ergänzt wurde, abgespielt von frühen Musikautomaten (Grau, 2004).
Filmische Panoramen
Diese Grundform des Panoramas wurde in seiner Geschichte vielfach variiert, vor allem an den grossen (Welt-)Ausstellungen des 20. Jahrhunderts. An der Pariser Weltausstellung von 1900 beispielsweise waren zwei weiterentwickelte panoramatische Formate zu sehen: Das Maréorama von Hugo d'Alesi simulierte die Höhepunkte einer Schiffsreise von Nizza nach Konstantinopel mit einer Zuschauerplattform, die einem Schiffsrumpf nachempfunden war, der, auf einer Art Gimbal gelargert, die charakteristischen Bewegungen eines Schiffs auf hoher See nachempfinden liess. Auf beiden Seiten des Schiffes wurde je eine 750 Meter lange und 12 Meter hohe Leinwand um den Schiffsrumpf herumgezogen, die an beiden Enden auf riesige Rollen gewickelt war, die wegen des enormen Gewichts auf Schwimmern in einem Wasserbecken gelagert wurden. Vergleichsweise konventionellere Entwicklungen des grundlegenden Dispositivs gemalter Rundpanoramen stellen die seit 2003 von Yadegar Asisi oft in bereits bestehenden Rundgebäuden wie alten Gasometern installierten Rundgemälden in Deutschland und Frankfurt. An 8 verschiedenen Standorten wurden bisher 14 Panoramabilder ausgestellt, deren Herstellung und Präsentation gegenüber den Vorläufern des 18. und 19. Jahrhunderts modernisiert worden ist: Hergestellt werden die Panoramen am Computer aus einer Vielzahl von retouchierten Fotografien, präsentiert und gewissermassen animiert mit Licht- und Toneffekten als eine Art geloopter Vorführung von einigen Minuten Dauer, die beispielsweise den Tagesablauf und die unterschiedlichen Aktivitäten an der ehemaligen Mauer zwischen Ost- und Westberlin darstellt.
Wie das Maréorama auf der Weltausstellung von Paris, wurde auch die erste Verbindung des panoramatischen Displays mit der damals noch jungen Technik der Filmprojektion angekündigt. Cinéorma nannte sein Erschöpfer Raoul Grimoin-Sanson diese Neuigkeit, in welcher das Panorama nicht mehr gemalt an die Wand eines Rundbaus gehängt, sondern von zehn Projektoren unterhalb der als Korb eines Fesselballons ausgestalteten Zuschauer*innenplattform als bewegtes Rundumbild einer Ballonreise an die Wand projiziert wurde. Ob die frühe Verbindung einer eben erst erfundenen Technik mit dem Format des Panoramas tatsächlich funktionstüchtig war, ist in der Forschung umstritten. Für die Vorführungen, die nach Grimoin-Sansons Berichten drei Tage lang vor begeistertem Publikum stattgefunden haben sollen bevor die Hitzeentwicklung zwischen den zehn Filmprojektoren in der engen Vorführkabine zu gross geworden sein soll, gibt es keine Belege. Die Idee des Film-Panoramas war aber bereits mit der Patentierung zweier ähnlicher Projektsionsdispositive 1896 und 1897 durch Auguste Baron und Raoul Grimoin-Sanson geboren. Die konzeptuelle und inhaltliche Anlehnung an das Grunddispositiv der gemalten Panoramen in der Tradition Robert Barkers wird dadurch deutlich, dass die Masse der in Paris eigens gebauten Panorama-Hülle mit einer Leinwand von circa 9 x 100 Meter jenen bestehender Panorama-Rotunden entsprach, was möglicherweise der Intention entsprang, die Film-Panoramen mit reduziertem Aufwand an das weltumspannende Netzwerk der Distribution von in ihren Proportionen normierten Panoramen anzuschliessen.
Das Cinéorama zeigt den ersten Moment an, in welchem das weltweit verbreitete und damit immens erfolgreiche gemalte Panorama in der Geschichte der immersiven Bildmedien nach und nach von den Dispositiven des Films abgelöst wurde. Das Dispositiv der panoramatischen Filmprojektion wurde im darauffolgenden Jahrhundert weiterentwickelt, beispielsweise im Circarama/Circle Vision 360 des Disney-Konzerns, das ab 1955 den Film A Tour of the West, später und bekannter dann America the Beautiful als 360°-Projektion an der Weltausstellung von Brüssel 1960 und im Disneyland/Tomorrowland präsentierte. Filmaufnahmen und Filmprojektion fanden mittels jeweils 11 (später 9) synchronisierter 35mm-Kameras (in der frühen Form noch im 16mm-Format) und -Projektoren statt. Das Kamera-Aggregat konnte unterhalb eines Flugzeuges oder Fesselballons oder auf das Dach eines Autos montiert und so mobilisiert werden, wovon der ikonische Circarama-Produktion America the Beautiful ausgiebig Gebrauch machte. Im selben Format produzierten die Schweizerischen Bundesbahnen SBB für die Expo 1964 in Lausanne ihren Film Rund um Rad und Schiene, der das Konzept der Disney-Produktion auf die Schweiz, wie sie vom Schienennetz der SBB her gesehen werden konnte ausdehnte. Die Kino-Panoramen dieser Circarama-Vorführungen waren zwischen 12 und 26.5 Metern im Durchmesser, die Höhe der Leinwand variierte von circa 2.4 bis sieben Meter. Mitbeteiligt an der Produktion des SBB-Films war Ernst A. Heiniger, der jedoch mit der Komplexität einer so schwerfälligen Apparatur mit 11 Kameras unzufrieden war und 1984 im Landesmuseum der Schweiz den Film Impressions of Switzerland vorstellte. Diesen hatte er in seinem selbstentwickelten Format Swissorama produziert, für welches nur noch eine Kamera notwendig war. Der wirtschaftliche Erfolg des Systems blieb bescheiden und auch der Kooperation Heinigers mit der Firma Iwerks Entertainment in Los Angeles und die Entwicklung des Imagine 360-Systems waren nur wenige Rundumprojektionen an grossen internationalen Ausstellungen beschieden.
Kinoimmersion
Die Entwicklung des standardisierten Vorführraums des Kinos stellt in der Geschichte der Immersion durch Bildmedien oberflächlich besehen einen Rückschritt dar, wenn man bedenkt, dass die Vorführungen in ihren Anfängen in relativ bescheidener Bildqualität, oftmals ohne Ton und mehrheitlich in Schwarz-Weiss stattgefunden haben. Jedoch scheint das Dispositiv der Projektion vor einem versammelten Publikum vieler Individuen der Einzelvorführung beispielsweise des Kinetoskops der Thomas Alva Edison Company vorgezogen worden zu sein, weil es ein kollektives Erlebnis ermöglichte. Für das frühe Kino bot es sich an, die visuellen und auditiven Defizite mit ähnlichen Mitteln auszugleichen, wie zuvor das Panorama, indem es der eigenen basalen Präsentationsform, weitere Formen angliederte.
Die Suche nach hoch immersiven Beobachtungsstandpunkten und integrativen Raumerlebnissen, nach immer besserer medialer Annäherung an den Erfahrungsreichtum der realen Welt bis hin zur "ultimative[n] virtuelle[n] Realität in der perfekten Simulation der Wirklichkeit, ihrer sinnlichen Verdoppelung" (Huhtamo, 2008 [1995]), liesse sich als Technikgeschichte des Kinos nacherzählen, in welcher immer neue Technologien höhere Bildauflösungen, bessere Farbwiedergabe oder hyperrealistischen Sound ermöglichen, oder die reine (Ton-)Filmvorführung durch Hinzufügung weiterer Sinneseindrücke in eine multisensorische Erfahrung überführen. Die dafür gefundenen Lösungen umfassten in der frühen Filmgeschichte beispielsweise die sogenannten "Phantom Rides", in welchen Filmaufnahmen in Bewegung gemacht wurden. Beliebt war unter anderem die Sicht vor allem aus dem Führerstand eines fahrenden Zuges, die die Firma Hale's Tours mit seinen eigens gebauten Kinos bediente. George C. Hale und Fred Gifford patentierten 1904 ihre Vorführkabinen in Form eines Reisezugabteils an dessen vorderer Front statt des Durchgangs zum vorderen Wagen eine Leinwand angebracht war, auf welcher frontalperspektivische Filmaufnahmen von Fahrten auf spektakulären Bahnstrecken gezeigt wurden. Der Innenraum dieses Vorführraumes war dem Eisenbahnabteil nachempfunden, die Eintrittskontrolle fand am Platz durch einen "Schaffner" statt, der die Tickets der Besucher*innen mit einer Zange knipste. Komplementiert wurde auch dieses Dispositiv bisweilen durch die Lagerung des ganzen Vorführraums auf Rollen, um den Bewegungseindruck eines fahrenden Zuges durch Rütteln verstärken zu können. Die Idee hatte eine kurze, aber äusserst erfolgreiche Lebensdauer mit bis zu 500 installierten Sälen in den USA zwischen 1906 und 1911 (Fielding, 2008 [1968-69]).
3D wurde im Kino der 1950er Jahre zum Schlagwort, als das anaglyphische 3D-Verfahren mit je einem rot- und cyanfilter die Projektion von Farbfilmen möglich machte und die heute kanonisierten Bilder von Zuschauersälen voller Menschen mit Kartonbrillen entstanden. Die Stereoskopie, die bereits seit dem Ende des 19 Jahrhunderts – und damit also nur wenige Jahre nach der Einführung des Films – erstmals entwickelt und patentiert wurde, versprach die Immersion in den visuellen Raum des Kinos, indem vor dem Auge der Betrachter/innen der Eindruck der Tiefe der projizierten Bilder verstärkt wurde. Dazu mussten gleichzeitig zwei Bilder auf der Leinwand zu sehen sein, die von zwei Kameras mit einer leicht unterschiedlichen Position aufgenommen worden waren, welche die Position des menschlichen Augenpaares imitierten. Die farbigen Brillen dienten dazu, die jeweiligen Bildinformationen, die nur für jeweils ein Auge vorgesehen waren, zu filtern, so dass die Parallaxe zwischen den beiden Bildern als Verschiebung der Perspektive beider Augen gesehen werden konnte. Der Versuch, das zweidimensionale Medium der Filmprojektion für das menschliche Auge in ein dreidimensionales Erlebnis zum zuwandeln scheint natürlich, da der menschliche Sehapparat ja zum dreidimensionalen Sehen befähigt und daraus viele Informationen bezieht, die im Alltag von immenser Wichtigkeit sind. 3D-Verfahren tauchen denn auch mit einer gewissen Regelmässigkeit in der Geschichte des Kinos auf und präsentieren mit jedem Zyklus, den sie durchlaufen technische Verbesserungen, die die Tiefenwirkung des Bildes noch kompletter oder für das Publikum leichter zugänglich machen. Das derzeit gängigste Verfahren der Stereoskopie im Kino (RealD 3D) beruht denn auch nicht mehr auf anaglyphischer Projektion wie in den 1950er-Jahren, sondern auf dem Polaroid-Verfahren, bei welchem beide Augen durch einen Polaroid Filter nur jeweils jene Anteile des Lichts wahrnehmen können, deren Wellen in einer bestimmten Richtung schwingen. Die synchrone Projektion zweier Filmstreifen auf dieselbe Leinwand ist der abwechselnden Projektion zweier sich stereoskopisch unterscheidender und Bildspuren unterschiedlicher Schwingungsrichtung gewichen. Die "frame rate" erreicht in diesen Systemen 144 Bilder pro Sekunde.
Auch an teilweise skurrilen Vorschlägen für immersive Projektionsdispositive mangelt es in der Kinogeschichte nicht. Berühmt geworden ist John Waters' Film Polyester von 1981, der bei seiner Veröffentlichung als "Odorama" gezeigt wurde. Beim Kauf eines Kinotickets wurde der Besucherin eine Karte mit zehn durchnummerierten Punkten ausgehändigt, die Einblendungen auf der Leinwand während der Filmvorführung entsprachen. Das Publikum war dazu aufgerufen, auf das Stichwort einer aufblinkenden Zahl hin am entsprechenden Punkt auf der Karte zu rubbeln und dadurch einen Geruch freizusetzen, der mit der Handlung auf der Leinwand korrespondierte (Peach, 2000).
Während der Versuch, Immersion in filmische Handlung durch die Adressierung des Geruchsinns zu begünstigen eher die Ausnahme blieb, war dem Kino stets bewusst, dass der Ton einen wesentlichen Faktor der immersiven Wirkung des Kinos darstellt. So wie die Techniken der Bildprojektion durch das Jahrhundert des Films eine Evolution erlebt haben, so sind gleichzeitig zahllose Tonsysteme eingeführt und teilweise wieder abgelöst worden. Einige von Ihnen hatten zum Zweck, den Ton im Kino für einen noch realistischeren Filmeindruck einzusetzen (, während andere bewusst reale Geräuschsituationen übertrafen, um mit larger-than-life-Toneffekten die körperliche Reaktion auf das Leinwandgeschehen zu verstärken). Zu den ersten Systemen, die dazu entwickelt wurden, gehörte das für den Disney-Film Fantasia (USA 1940) erfundene und danach nicht wieder eingesetzte System Fantasound, bei welchem die noch ausschliesslich hinter der Leinwand angesiedelten Tonquellen in Links-Mitte-Rechts aufgeteilt wurden, um einen räumlicheren Eindruck herzustellen. Hierzu musste jedoch neben dem eigentlichen Film ein zweiter Filmstreifen synchron abgespielt werden, auf welchem nebeneinander drei Tonkanäle wiedergegeben waren, die durch den Control-Track auf dem Filmstreifen kontrolliert werden konnten. Der technische Aufwand war zu hoch, als dass sich dieses System durchsetzen konnte, weil zu wenige Kinos dafür eingerichtet werden konnten. Das noch heute in Kinos zur Anwendung kommende Dolby-System wurde 1965 von Ray M. Dolby eingeführt und bis heute laufend erweitert mit dem Ziel, die Raumwahrnehmung des Tons zu verbessern. Zu den Entwicklungen gehören Dolby Surround, Dolby Digital und gemeinsam mit der Firma THX das System Dolby Digital EX. Die Systeme operieren mit unterschiedlicher Anzahl Kanäle, die im Kinosaal bespielt w erden, ihnen allen gemeinsam ist jedoch das Dispositiv, Tonquellen nicht nur frontal aus der Richtung der Leinwand auf die Zuschauenden zu richten, sondern neben und hinter den Zuschauerrängen ebenfalls Lautsprecher zu platzieren, so dass der Publikumsraum vollständig von Tonquellen umgeben ist. Die Surround-Technik wurde verschiedentlich weiterentwickelt. Als Beispiel soll hier das System des Sensurround genannt werden, bei welchem eine Stereo-Lichttonspur auf dem Filmstreifen mit einer Magnettonspur kombiniert wurde, auf welcher nur extrem tiefe Frequenzen wiedergegeben wurden: Zum Einsatz kam das System passenderweise erstmals im Film Earthquake (USA 1974), die Aufgabe der Magnettonspur war es mit tieffrequenten Tönen den Zuschauerraum von allen Seiten zu bespielen und durch den hohem Schalldruck dieser langwelligen Geräusche das gesamte Kinogebäude in Schwingung zu versetzen. Der Ton sollte nicht eigentlich gehört, sondern gespürt werden. Auch dieses System setzte sich wegen seiner technischen Spezifikationen, die nur in wenigen Kinos erreicht wurden, nicht durch, obwohl es gut funktionierte, so gut sogar, dass davon die Rede war, Gebäude seien durch die Schwingungen beschädigt worden.
Bereits 1977 zeigte John Landis in seinem Film Kentucky Fried Movie eine ins komische Extrem übersteigerte Persiflage auf den Versuch des Kinos, nicht nur Sehen und Hören zu adressieren, sondern die anderen drei Sinne mit in das Filmerlebnis zu integrieren. Der Besuch einer Kinovorführung wird für den Protagonisten zu einer ganzkörperlichen Erfahrung, da ihm für die Dauer des Films Lakai beigestellt wird, der, hinter ihm stehend, die Aktionen auf der Leinwand mit realen Aktionen komplementiert: er bläst ihm Zigarettenrauch ins Gesicht, brennt ein Streichholz vor der Nase ab, giesst ihm ein Glas Wasser über die Hose, krault ihm die Brust, rüttelt ihn kräftig durch und hält ihm im Finale gar ein Messer an den Hals. Die Immersion scheint für den fiktionalen Kinogeher zu viel, so dass am Ende der Szene gebeutelt in seinem bequemen Kinosessel sitzen bleibt.
Breitwandfilme, Multiprojektionen
Ein quasi medium-immanenter Versuch, die Zuschauer*innen stärker in das Filmbild zu integrieren waren die Veränderungen der Bildgrösse, sowie Multiprojektionen, in denen das Bildfeld durch die Zusammenfügung mehrerer gleichzeitiger Projektionen vergrössert und damit das natürliche Blickfeld des Menschen besser ausgefüllt wurde. Nicht nur in Panoramenprojektionen wie dem Cinéorama der Pariser Weltausstellung fanden frühe Versuche dazu statt, auch im konventionellen Erzählkino: Der französische Filmemacher Abel Gance, dessen experimentelle Montagen Filmemacher wie Sergej Eisenstein oder Wsewolod Pudowkin beeinflussten, liess sein 1927 entstandenes 330 Minuten langes Monumentalwerk Napoléon mit einer Dreifach-Projektion enden, aufgenommen mit drei synchronisierten Kameras. Vorgeführt wurde der Film auf einer gebogenen Breitwandleinwand, doch erst in der Schlussphase der Vorführung wurde diese durch den Einsatz dreier Projektoren vollständig ausgefüllt. Die Technik der Breitleinwand erlangt im Cinemascope-Format knappe dreissig Jahre später – quasi als gegenreformatorische Technik zum Fernsehen – grosse Bedeutung im Kino, die Krümmung von Abel Gances Leinwand verweist jedoch gleichzeitig auf das Format des Panoramas, und den Versuch, die Betrachter*innen vom Bildraum tatsächlich umfassen zu lassen. In den berühmten Multiprojektionen an internationalen Ausstellungen beispielsweise von Moskau 1959, New York 1964 oder Montreal 1967 (Kin Gagnon & Marchessault, 2014) – bzw. in der Schweiz an der Expo'64 in Lausanne – waren beide Aspekte der vergrösserten und der den Zuschauerraum umfassenden Leinwand in unterschiedlichen Ausformungen zu beobachten: Projektionen in geodätischen Kuppeln oder mit gegeneinander abgewinkelten Leinwänden. Ein Effekt dieser Verfahren ist es, dass den Zuschauer/innen verunmöglicht wird, die gesamte Darstellung mit einem Blick zu erfassen. Das dadurch notwendige werdende Wandern des Blickes und die Erfahrung der Gleichzeitigkeit vieler Aktionen, die immer auch mit dem Eindruck verbunden ist, einzelne Aktionen zu verpassen, nähert die Filmerfahrung dem räumlichen Erlebnis ausserhalb des Kinos an. Mehrere gleichzeitige Projektionen wirken verstärkend, da das Gefühl der Überlastung des Blicks durch simultane aber diskrete/unterschiedliche Projektionen stärker wird.
Standardisiert wurde dieser Versuch, Zuschauer/innen durch die Überwältigung mit einer riesigen Leinwand stärker in das Filmgeschehen zu immersieren, durch IMAX, das an der Expo '67 in Montreal als Vorläuferdispositiv und 1970 in Osaka erstmals in seiner endgültigen Form zum Einsatz kam und daraufhin auf der ganzen Welt in spezialisierten Vorführsälen installiert wurde. Die Leinwand eines IMAX-Kinos ist mit 24.5 x 30m fast zehn mal grösser als eine normale Kinoleinwand und auch hier wurde die Leinwand teilweise nach vorne in den Zuschauerraum hinein geneigt installiert, so dass das Publikum buchstäblich von der Leinwand zugedeckt wurde.
Expanded Cinema
Eine andere Entwicklungslinie stellen immersive Vorführdispositive dar, die vor allem in den 1960er-Jahren im Avant-Garde Film und oft in grosser Nähe zur experimentellen Musik ersonnen wurden, meist aber als Solitäre stehen blieben. Die Immersion, die diese Aufführungen ermöglichen, ist keine Immersion in eine Handlung, sondern in eine räumliche Konfiguration von Licht und Projektionen, die die Besucher/innen einhüllt. Am bekanntesten unter diesen immersiven Dispositiven sind die Exploding Plastic Inevitable-Shows (EPI), die Andy Warhol 1966 und 1967 zuerst in New York, daraufhin aber auch auf einer Tour durch verschiedene US-Amerikanische Städte aufführte. Im strengen Sinne waren die Shows keine Filmvorführungen, vergleichbar sind sie eher den Konzerten, Parties und Raves der 1990-Jahre, doch die Aufführungen in verdunkelten Hallen waren neben Livemusik (u.a. von Nico und den Velvet Underground) geprägt durch kinetische Elemente: Lichtshows in welchen Stroboskope eingesetzt wurden zerlegten jede Bewegung des Publikums in Phasenbilder, (über-)stimulierten den kognitiven Apparat der Besucher/innen und lösten dadurch direkt physische Reaktionen aus. Projektionen von Andy Warhols Filmen sorgten für eine weitere Rhythmisierung des visuellen Erlebnisses in einem Raum voller tanzender Menschen. In den EPI-Shows hatte Warhol Konzepte weiterentwickelt, die ihren Ursprung in den Farblichtmusik-Aufführungen des Ungarischen Komponisten Alexander László hatten, Multiprojektionsperformances überwiegend mit Lichteffekten für die in teilweise eigens gebauten Kuppelräumen sein Farblichtklavier eingesetzt wurde. Lászlós Apparat hatte die ersten Aufführungen 1925 in Kiel und Hamburg erlebt, ab 1926 (László spricht fälschlicherweise von 1927; László 2006, S. 314) arbeitete der Ungare aber mit dem Künstler und Filmemacher Oskar Fischinger zusammen und das Farblichtklavier wurde durch einen Projektor ergänzt, mit welchem zusätzlich zu den Farbeeffekten der Orgel auch Fischingers abstrakte Filme projiziert werden konnten. Das Farblichtklavier, das László mit Hilfe der Firma Zeiss-Ikon entwickelt hatte, wurde in verschiedenen Städten Deutschlands aufgeführt, am längsten jedoch in Düsseldorf in einer Ausstellung mit dem Titel "GeSoLei" ("Ausstellung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen"), die von Mai bis Oktober 1926 mit 174 Einzelausstellungen stattfand. Die Farblichtmusik wurde 8-10 mal pro Tag aufgeführt und erreichte damit ungefähr 1200 Aufführungen und über 40'000 Besucher/innen. Die Idee, Kuppeln für nahtlose Projektionen zu verwenden und damit das Gefühl einer Art endlosen Raums zu schaffen, wurde mancherorts weiter verfolgt, oftmals erfolglos, wie das Beispiel von Oskar Fischingers Vorschlag von 1944, eine solche Kuppel in New York zu bauen, zeigt (Keefer, 2009, unpaginiert), aber im Falle der Vortex Concerts des experimentellen Filmemachers Jordan Belson und des Komponisten Henry Jacobs mit dem Ergebnis einer Serie von Aufführungen im Morrison Planetarium von San Francisco, die heute Legende geworden sind. Zu von Jacobs kuratierter Avant-Garde-Musik, die er mit einem eigens konstruierten, drehbaren Lautsprecher-Rig im Raum hörbar zu einem Wirbel (vortex) modulieren konnte, kreierte Belson mit bis zu dreissig Projektionsapparaten gleichzeitig über den Köpfen des Publikums eine nahtlose, gesichtsfüllende Licht- und Filmprojektionskuppel. Den riesigen Erfolg dieses "Entertainments for the Space Age" (Keefer 2008), der durch 35 Aufführungen in fünf unterschiedlichen Serien zwischen Mai 1957 und Januar 1959 in San Francisco und Gastspielen an der Weltausstellung von Brüssel 1958 belegt ist, erklärte der San Francisco Chronicle im Januar 1959 mit dem expliziten Hinweis auf die immersiven Qualitäten der Vorführungen:
“[...] one of his visual compositions has the extraordinary effect of lifting the spectator right off his seat to traverse that sky-space in a wonderfully disembodied way.”
Alfred Frankenstein im San Francisco Chronicle, Januar 1959. Zitiert nach Keefer, 2008
Belson projizierte in seinen Shows keine ganzen Filme sondern nur Ausschnitte aus seinen eigenen und von James Whitneys Werken, die er mit unterschiedlichsten Projektionsapparaten – unter anderem dem Sternenprojektor des Planetariums – kombinierte. Der einzelne Film löste sich in diesen Kuppelprojektionen zugunsten eines visuellen Gesamtkunstwerks auf, welches das Publikum in einen Licht-, Bild- und Ton-Strudel hineinziehen sollte, um die oben beschriebenen körperliche Erfahrung möglich zu machen und unter Umgehung der Kognition die Zuschauer/innen auf einer unbewussten Ebene zu erreichen. Stan VanDerBeek, ein New Yorker Avant-Garde Filmemacher verfolgte ähnliche Ziele mit seinem nördlich von New York gebauten "Movie-Drome", in welchem er ab 1966 eigene Filme, Diaprojektionen und Lichteffekte einsetzte, um die am Boden liegenden Besucher/innen, deren Füsse in Richtung der Mitte des kreisrunden Grundrisses zeigen sollten, in eine nahtlose Projektion hineinzuziehen, deren
"purpose and effect [...], is to both deal with logical understanding, and to penetrate to unconscious levels, the use of such "emotion-pictures" would be to reach for the "emotional denominator" of all men..."
VanDerBeek, 1966, S. 17
Unter dem Begriff des Expanded Cinema werden ausser den beschriebenen Kuppelprojektionen auch Aufführungen von Lichtprojektionen subsummiert, deren Ziel nicht die Immersion der Besucher/innen in eine räumliche Situation ist, sondern vielmehr die reine Beschäftigung mit dem kinematografischen Dispositiv während der Projektion. Unter diesen klassischen Werken des Expanded Cinema gab (und gibt) es jedoch auch Arbeiten, in welchen die räumliche Erfahrung der Zuschauer/innen ins Zentrum rückt. So zum Beispiel in Anthony McCalls Installation Line Describing a Cone: In einer komplett verdunkelten, ansonsten offenen, mit Rauch aus einer Nebelmaschine gefüllten Halle wird die Filmprojektion nicht allein von einer gegenüberliegenden Leinwand, sondern im gesamten Raum durch die Rauchpartikel reflektiert. Diese Projektion besteht zuerst nur aus einer feinen Linie, die sich durch die Halle zieht und auf der Leinwand einen feinen Punkt ergibt. Dieser Punkt wächst und beschreibt im Laufe der 60-minütigen Vorführung eine volle Kreislinie. Im Projektionsraum entsteht die Lichtskulptur eines von Rauchschwaden gebildeten, gleichzeitig stabil und fluid aussehenden Kegels, der von den Besucherinnen der Aufführung beobachtet, berührt oder gar durchschritten werden kann. Nicht nur lässt Line Describing a Cone die Besucherinnen vom Rauch umhüllen und verweist damit auf die Immersion in der Umgebungsluft. Gleichzeitig lädt die Installation aber auch zur Interaktion mit der Lichtskulptur ein, die visuell zwar auf Luftzüge reagiert, aber nicht berührt werden kann – Immersion in eine flüchtige Räumlichkeit, die die Besucher/innen mit Fragen über die Qualität derselben konfrontiert. McCall selber spielt mit dieser paradoxen Situation indem er seine Arbeiten heute als "Solid Light Works" bezeichnet.
Immersionsspektakel
Ein Überblick über immersive Mediendispositive, so Lückenhaft er angesichts der immensen Fülle historischer Beispiele auch sein muss, kann zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Textes nicht ohne die Erwähnung von Spin-offs der grossen Filmstudios zu erwähnen, die die Idee immersiver Erlebnisse, wie sie in der Geschichte der visuellen Medien vor allem im Kino immer wieder aufgetaucht ist, noch weiter in die Nähe tatsächlicher körperlicher Erfahrungen rücken. Die "themed rides" in den Vergnügungsparks grosser Filmstudios wie Universal oder Walt Disney in Hollywood verwenden die erfolgreichsten Narrative der (Firmen-)Filmgeschichte als Franchise, das in der Form von technisch weiterentwickelten Attraktionen, wie sie in Vergnügungsparks seit langem bekannt sind, auf wenige wiedererkennbare, das physische Erleben in maximaler weise adressierende Momente der Erzählung reduziert werden kann. Die Immersion bildet sich meist aus dem synchronisierten Zusammenwirken von visueller Information und anderen sensorischen Eindrücken wie Beschleunigung, Temperaturschwankungen, taktilen Aspekten und natürlich auf Überwältigung abzielende Geräuschkulissen, die in vielen Fällen Überraschungsmomente und das Erschrecken des Publikums dazu verwenden, die kognitive Distanz auszuhebeln. Dass dazu eine erstaunliche Koordination mehrerer Sinneseindrücke, nicht jedoch eine reale Räumlichkeit notwendig sind, zeigt beispielsweise der Harry Potter Themed Ride in den Universal-Studios von Hollywood, wo eine muschelartig um die sesselbahnartige Bank gekrümmte Leinwand und ruckartige, dreidimensionale Bewegungen auf geringstem Raum ausreichen, um eine Quidditch-Partie in der Haut von Harry Potter zu simulieren. Der kurze Ausfall der Technik beim Besuch des Schreibenden führte zu einer Entzauberung, die der Wahrheit über die physikalische Welt der Matrix im gleichnamigen Film der Wachowski-Brüder gleich kam.
Eine lange Geschichte der immersiven Bildmedien
Die Bedeutung technischer Apparate für immersive Erfahrungen sollte am Ende dieses Textes deutlich geworden sein. Die neueren immersiven Medien beruhen auf computerbasierten Innovationen, in welchen das Element der Präsenz verstärkt und damit der Eindruck der Immersion erhöht wird. Doch dieses Element der Minderung kritischer Distanz ortet jedoch schon Oliver Grau nicht allein in jenen technisierten Bildapparaturen, in welchen "Botschaft und Medium für die Wahrnehmung nahezu untrennbar miteinander konvergieren" und damit das Medium zunehmend unsichtbar werden lassen (Grau 2004, unpaginiert). Als "mentale Absorbierung" bezeichnet er den Prozess der "Passage", in welcher die "emotionale Involvierung" das ästhetische Erleben zu dominieren beginnt. Naturgemäss orten an einem historischen Moment, in welchem neue Bildmedien durch verbesserte Simulationen einen Zugewinn emotionaler und körperlicher Einbindung in das mediale Geschehen versprechen, die Vertreter/innen der alten Bildmedien deren Basis nicht in technischen Innovationen, sondern im Vermögen der menschlichen Kognition zu figurativem Erleben und zur Imagination. Die Filmwissenschaftlerin Robin Curtis beispielsweise weist darauf hin, dass im englischen Sprachgebrauch "der Satz 'I was completely immersed' sich bis heute vordringlich auf die Rezeptionserfahrung mit Büchern bezieht" (Curtis 2008: 90) und betont damit die Komponente der Immersion, die im vorliegenden Überblick nur vereinzelt aufgeblitzt hat: Immersion in Narrationen als eine Fähigkeit die weit in die Menschheitsgeschichte zurückreicht, aber im Medienraum der 'Attraktionen' meist nur als zweitrangig behandelt wird. Jede immersionsfördernde Neuerung in den audiovisuellen Medien erreicht immer dann ihre volle Wirkung, wenn zur scheinbaren körperlichen Immersion die mentale Immersion in eine Narration hinzukommt und die Phantasie freisetzt, die die Spektren des menschlichen Erlebens in glücklichen Momenten konvergieren lässt.
Bibliographie
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